Ein SS-Mann aus Stade

Geschichte, die nie vergeht…

Ein alter Stader Kaufmann
Der Mietvertrag mit der Stadt Stade lief noch ein paar Jahre, aber die Geschäfte gingen nicht mehr gut und so entschloss sich Gustav W., sein Feinkostgeschäft in unmittelbarer Nähe zum Stader Rathaus im Sommer 2002 aufzugeben. Der 94-jährige Kaufmann stand noch bis zuletzt rüstig hinter dem Verkaufstresen. Eine Geschäftsübergabe an den Sohn oder die Tochter, die beide im Familienbetrieb mit über 100-jähriger Tradition beschäftigt waren, hat es nie gegeben. Gustav W. verbreitete im »Stader Tageblatt« noch: Wir sind nicht für große Worte und machen von der Schließung kein Theater, wenn die Leute sagen »es tut uns Leid« ist das genug.

Ein Brief vom Bundeskanzler
Stader Bürger arrangierten bei Geschäftsaufgabe einen persönlichen Brief von Bundeskanzler Gerhard Schröder an den alten Kaufmann. Der Brief wurde vom Stader Bürgermeister überbracht. Gerhard Schröder wurde bei einem früheren Besuch in Stade von Gustav W. vor seinem Geschäft angesprochen. Als Schröder Jahre später erneut ins Stader Rathaus kam (jetzt Ministerpräsident von Niedersachsen) fragte er den Stadtdirektor, ob denn der nette alte Herr von nebenan noch dort sei. Er war, und Gerhard Schröder besuchte ihn.

Ein Stader SS-Scharführer
Gustav W. ist 1933 in die Allgemeine SS eingetreten. Im März 1940 wurde er zur Waffen-SS in Krakau eingezogen und versah dann bis September 1940 »Wachdienst« in Warschau. Nach einem kurzen Aufenthalt in Stade trat er im Januar 1941 seinen Dienst bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Hildesheim an. Im Mai 1941 erfolgte eine Schulung und er wurde dem Polizeireferat des neu gegründeten Einsatzkommandos 9 (EK 9) zugeteilt.
Ende 1942 wurde Gustav W. zur Gestapo Hannover abkommandiert. Er wurde zur Überwachung von Zwangsarbeitern eingesetzt und führte »Vernehmungen« durch. Bei Kriegsende war er in der Gestapostelle Hannover-Ahlem. Im April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, beteiligte er sich freiwillig an der Massenerschießung von 154 Zwangsarbeitern auf dem Seelhorster Friedhof in Hannover. Gustav W. wurde 1947 für diese Morde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Am 13. August 1950 wurde er wegen guter Führung begnadigt.

Mordkommando EK 9
Die Einsatzkommandos wurden im Mai 1941, kurz vor Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, aufgestellt. Politisch zuverlässige Beamte des Sicherheitsdienstes, der Gestapo, der Ordnungs- und Kriminalpolizei wurden in Polizeischulen zusammengezogen, um sie dort für die vorgesehenen Aufgaben ideologisch und militärisch zu schulen. Die Tötung der jüdischen Landeseinwohner war die Hauptaufgabe der Einsatzkommandos, sie sollten aber auch politische Kommissare, Kommunisten und Zigeuner ermorden. Dr. Filbert, der erste Leiter des aus etwa 120 bis 150 Personen bestehenden EK 9, unterrichtete Ende Juni 1941 die Angehörigen des EK 9 darüber, dass alle Juden in den jeweils vom Kommando besetzten Gebieten zu erschießen seien. Filbert erklärte später vor Gericht: Jeder Angehörige des Kommandos mußte wenigstens einmal an einer Erschießung teilnehmen. Es gab keinen, der sich ausschließen konnte.
Gustav W. gehörte dem Polizeireferat des EK 9 an. Das Referat hatte die Aufgabe, die Juden den jeweiligen Erschießungskommandos zu überstellen, die Opfer der Erschießungen zu registrieren und weiterzumelden. Die Gestapobeamten aus dem Polizeireferat, unter ihnen Gustav W., wurden im August 1941 als Schützen bei einer Massenerschießung von Juden herangezogen. Bis zum 26. Oktober 1941 wurden vom EK 9 insgesamt 11.449 Juden erschossen. In Westberlin fanden vor dem Landgericht 1962 und 1966 Prozesse gegen die Kommandierenden des EK 9 statt. Angehörige des Mordkommandos mussten in diesen Prozessen Aussagen.
Die »Neue Zeit« aus Berlin-Ost berichtete am 5. Juni 1962 unter der Überschrift »Auch Kleinkinder ermordet« folgendes über den Prozess gegen Filbert: Die Mordtaten waren mit bürgerlicher Pedanterie genau reglementiert. Wie der frühere SS-Scharführer Gustav Wolters vom Polizeireferat des Einsatzkommandos 9 – heute wohlbestallter Kaufmann in Stade – aussagte, war der Gang der Dinge folgender: Jeden Abend hing in den Unterkünften der Dienstplan mit den Namen derjenigen aus, die am nächsten Tag an den Mordaktionen teilzunehmen hatten.
Der »Tagesspiegel« aus Berlin-West berichtete am 24. April 1966: Ein anderer Zeuge, danach befragt, auf welche Weise kleine Kinder erschossen worden seien, erwiderte: »Na, wie die Katz.« Der Richter starrte ihn an und ersuchte nach einigen Sekunden des Schweigens um nähere Erläuterung. In ruhigen Ton sprach der Zeuge weiter: »Na sie wurden mit der einen Hand am Genick gepackt und mit der anderen erschossen.«

Ein abgesagter Vortrag
Die Stadt Stade will sich im Mai 2003 an den Israelischen Kulturwochen in Niedersachsen beteiligen. Im Programm vorgesehen war auch ein Vortrag über die ehemalige Israelitische Gartenbauschule Ahlem in Hannover. Das Gelände, der im Juni 1942 geschlossenen Gartenbauschule, diente als Sammelstelle für die Deportationen von Juden in die Vernichtungslager. In den Kellerräumen der Gartenbauschule befand sich von August 1943 bis April 1945 ein Gestapogefängnis. Der Vortrag wurde aus dem Programm der Kulturwochen genommen, nachdem Stader Lokalpolitikern klar wurde, dass auch die Tätigkeit von Gustav W. in Ahlem zur Sprache kommen würde.
Stadt will keinen Eklat um SS-Mann titelte die Lokalzeitung im November 2002 reißerisch den »Meinungsbeitrag« (!) einer Journalistin. Im Meinungsbeitrag wurde der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft AG Stade dafür verantwortlich gemacht, dass der Vortrag über die israelitische Gartenbauschule aus dem Programm der Kulturwoche genommen wurde. Die Journalistin berief sich auf »Insider«-Informationen, über die Tätigkeit von Gustav W. in Ahlem gab es nur einen vagen Hinweis im Zeitungsartikel.

Schweigen in Stade
Die Stader Kommunalpolitiker, von denen einige sehr genaue Informationen über den Stader Kaufmann hatten, hüllen sich in Schweigen. Das Arrangieren des Briefes von Bundeskanzler Schröder an den »ehrbaren« Kaufmann ist vielen peinlich. Das »Stader Tageblatt« brachte nach dem verschleiernden Meinungsbeitrag keine weiteren Artikel über die vielen Aspekte des Skandals. Einen Leserbrief, der Angaben über die Tätigkeit von Gustav W. beim EK 9 enthielt, veröffentlichte die Zeitung nicht …da er schwere Anschuldigungen gegen einen Stader Kaufmann enthält, die nicht nachvollziehbar sind. Eine Veröffentlichung könnte den Tatbestand einer üblen Nachrede enthalten, den wir presserechtlich nicht verantworten können.

Michael Quelle, Stade im Januar 2003